Gerade habe ich es ausgelesen und bin begeistert: „Warum wir erst anfangen uns selbst zu verstehen“ von Artho Stefan Wittemann ist ein wunderbares, hervorragendes, tolles Buch. Und es ist in einer leicht verständlichen Sprache geschrieben, folgt einem sinnvollen roten Faden, ist überhaupt nicht trocken, sondern total lebendig. Das beginnt schon im ersten Kapitel, in dem er beschreibt, wie 4 Bewohner eines Hauses einen Stromausfall erleben und mit der Situation umgehen, dass der Computer und Fernseher nicht mehr funktionieren, der Backofen nicht den Kuchen fertig backen kann usw.

Diese vier Personen trifft der Leser im Laufe des Buches regelmäßig wieder und kann miterleben, wie sie ihre innere psychische Struktur kennenlernen und wie sie sich verändern. Das allein ist schon super spannend, finde ich. Aber natürlich geht es dem Autor um die Darstellung seiner für die Psychologie neuartigen und umwerfenden Theorie. Diese Theorie umfasst eine ganze Menge, ich will hier mal versuchen, einige wiederzugeben, die mir besonders wichtig erscheinen.

• Die Psyche eines Menschen ist nicht unergründlich, sie enthält eine erkennbare Struktur und Ordnung, die man im therapeutischen Prozess mit der Methode des Gleich-zu-Gleich erkunden kann. Wie funktioniert die Methode Gleich-zu-Gleich:
  • Der Therapeut muss selbst mit seinen inneren Personen vertraut sein und einen guten Zugang zu allen haben, damit er auf das reagieren kann, was der Klient zeigt. Zeigt der Klient ein inneres Kind, muss der Therapeut mit seinem inneren Kind antworten, und zwar auf allen Ebenen:
• Die Psyche kommuniziert auf 5 Ebenen bzw. über 5 Kanäle:
  • Körper
  • Emotion
  • Bild/Symbol
  • Sprache
  • Energie
• Die Psyche ist ein System aus mehreren inneren Personen, deren Quellen aus 5 „Kontinenten“ stammen:
  • Gott – Erleuchtung
  • Frau – persönlich zugewandte Liebe
  • Kind – empfindsam empfangende Liebe
  • Tier – instinkthaft überlebenstüchtiges Handeln
  • Mann – planvoll übergreifendes Denken
• Jede innere Person hat eine Essenzhaltung als Quelle ihres Denkens, Fühlens und Handelns. Nach ihrer Esssenzhaltung kann man sie einem der 5 Kontinente zuordnen. Jeder Mensch kann mehrere innere Personen von jedem Kontinent haben, wobei auch die Personen vom gleichen Kontinent sehr verschieden sein können, also z.B. verschiedene Aspekte von Weiblichkeit verkörpern können.
• Man muss klar unterscheiden zwischen Quellen und Inhalten/Themen. Alle inneren Personen beschäftigen sich dauernd mit Themen und Inhalten, aber man muss sich der jeweiligen inneren Person ganz zuwenden, um ihre Quelle zu erforschen.
• Die inneren Personen in ihrer reinen Essenz haben oftmals Verletzung erfahren, ihre Fähigkeiten wurden nicht gebraucht und ihre Bedürfnisse missachtet. Das war für die inneren Personen ein Problem, sie suchten dafür eine Lösung. Die jeweils gefundene Lösung ist ihre Antwort für die Welt, Wittemann nennt sie die Reaktionshaltung. Leider führen Reaktionshaltungen meistens dazu, dass von der ursprünglichen Essenz etwas verloren geht. Davon merkt die innere Person aber nichts. Kommt sie in einen neuen Konflikt, sucht sie eine neue Lösung und findet eine weitere Reaktionshaltung. So können viele Schichten von Reaktionshaltungen entstehen, die die eigentliche Essenzhaltung bis ins genaue Gegenteil verändern können. Die Reaktionshaltungen – in all ihren Verdrehungen – sind unser Wille. Artho Wittemann gelingt es im Buch, diese Vorgänge ganz anschaulich darzulegen.
• Die Psyche ist ein Meister der Spaltung. Spaltung heißt Spezialisierung und bietet Schutz. Wenn sich eine innere Person nicht mehr ganz einbringen oder zeigen will, reduziert sie die 5 Ebenen der Kommunikation. Sie äußert sich nicht mehr auf allen Ebenen, sondern z.B. nur noch auf der Sprachebene oder nur noch in Tagträumen und Phantasien (der Symbolebene).

Sehr gut gefällt mir an dem Buch auch, dass der Autor die Theorien von Sigmund Freud, C. G. Jung, John B. Watson und Roberto Assagioli in den wesentlichen Aspekten beschreibt, ihre Widersprüche und Unzulänglichkeiten rasiermesserscharf aufzeigt und die Unterschiede zu seiner eigenen Theorie ganz klar und gut verständlich darlegt. Außerdem geht er auf die Vor- und Nachteile von zentralistischen, dualistischen und systemischen Modellen ein. Am Ende des Buches beschreibt er auch noch kurz die Unterschiede zur Voice-Dialogue-Methode von Hal und Sierra Stone sowie zur Arbeit mit dem inneren Team von Friedemann Schulz Von Thun. Bei allem, was Artho Wittemann in diesem Buch schreibt, habe ich spontan das Bedürfnis, laut herauszurufen: „Ja, genau, so ist es! Gut, dass das endlich mal jemand sagt!“ obwohl mir eigentlich erst im Moment des Lesens klar geworden ist, worum es geht.

Des Autors Fazit:

Es könnte eines Tages eine Frage unseres Überlebens werden, ob wir bereit sind, uns mit unserer inneren Realität zu konfrontieren. Die gegenwärtige globale Krise ist nur oberflächlich betrachtet eine Finanz-, Witschest- und Umweltkrise – sie ist im Kern eine menschliche Krise. Sie ist das direkte Ergebnis, die direkte Wirkung von Milliarden unbewusster Willenskräfte, die ihr nein gegenüber der Erde, den Menschen und dem Leben ausleben, indem sie mehr nehmen als geben.

Das Buch hat 383 Seiten, ich fand nur wenige davon ein bisschen anstrengend zu lesen, mindestens 350 Seiten sind unglaublich erfrischend und kurzweilig geschrieben, aber präzise im Ausdruck, kein Gelaber oder Geschwafel, sondern immer zügig und klar einem roten Faden folgend. Auch in der Mitte und am Ende des Buches weiß ich noch, was am Anfang erklärt wurde – und das ist eine Leistung, das passiert mir nicht oft, besonders wenn es um psychologische Theorien geht.
Jetzt habe ich den dringenden Wunsch, so eine Art von therapeutischer Arbeit zu beginnen und meine eigenen inneren Personen kennenzulernen.

Von mir eine ganz klare Empfehlung: 5 Sterne – Unbedingt lesen ! 🙂

Webseite von Artho Stefan Wittemann und seinem Institut für Individualsystemik: http://individualsystemik.com